Um das vorweg klarzustellen: Dekonstruktion finde ich durchaus witzig. Im doppelten Wortsinn.
Man stelle sich einfach vor, dass die Dinge andersherum sind, als wir sie verstehen. Vielleicht beherrschen die Menschen gar nicht die Erde, sondern die Mäuse. In den Forschungslabors dressieren sie die Forscher, das zu denken und zu tun, was sie wollen. Auch der Sinn des Lebens ist vielleicht längst klar: Er ist 42. Wir müssen nur die passende Frage zu dieser Antwort finden. Das ist witzig. Man kann ins Nachdenken kommen. Aber es wäre ziemlich albern zu glauben, dass es so ist.1
Dekonstruktion ist ein heuristisches Mittel, Dekonstruktivismus ist albern.
Derrida dekonstruiert systematisch Dichotomien, unhinterfragte Denkstrukturen hinter Gegensatzpaaren. „Leben und Tod“ zum Beispiel. Dieser Gegensatz existiert für ihn nicht. Wir sind alles Gespenster. Andere Gegensätze werden gelten gelassen, aber umgewertet. Derjenige Begriff, der gemeinhin als minderwertig gilt, wird jetzt höher bewertet, z. B. Schrift gegenüber gesprochener Sprache.
Eine sehr fruchtbare Dekonstruktion ist die von „Autor und Leser“. Der Text entsteht erst durch den Akt des Lesens.
Den Leser in den Blick zu nehmen, ist eine sehr gute Idee. Trotzdem würde der Text ohne den Autor gar nicht existieren. Es ist also richtig, dass der Leser an den Autor Geld zahlt und dass die Urheberrechte gelten.
Derrida selbst hielt nichts vom Dekonstruktivismus. Dekonstruktion war eine Haltung, nicht einmal eine Methode, schon gar keine Philosophie.
Auf dem Missverständnis der Dekonstruktion beruht die Gender-Bewegung. Das Gegensatzpaar „Mann und Frau“ wird dabei nicht einfach umgewertet, indem die Hierarchie angegriffen würde, was dem Feminismus wichtig war, sondern die Existenz des Geschlechts wird grundsätzlich geleugnet. Mann und Frau gelten als Erfindung der patriarchalen Gesellschaft, durchgesetzt mit Hilfe der Sprache.
Die Natur hat die geschlechtliche Fortpflanzung natürlich lange vor dem Menschen erfunden. Dieses Argument wird aber als Biologismus abgetan.
Die Existenz eines weiteren biologischen Geschlechts wird dennoch gern als Argument aufgenommen.
Dass es von Mann und Frau mehr als die Idealbilder einer jeweiligen Epoche gibt, ist keine neue Offenbarung. Auch Hermaphroditen kennt die Menschheit schon seit Ewigkeiten. Neu ist der Glaube, dass Sprache so mächtig ist, dass der Ausspruch der Hebamme „Es ist ein Mädchen“ wie ein Zauberspruch die geschlechtliche Identität eines Menschen erzeugt.
Solche Zaubersprüche erkennt Judith Butler in den performativen Sprechakten. Sie fangen häufig mit „hiermit“ an: „Hiermit entschuldige ich mich, bestätige ich, kündige ich, erkläre ich …“.
Man braucht sie nur auszusprechen oder auf ein Stück Papier zu schreiben und schon ist die Wirklichkeit verändert.
Wenn das so einfach wäre! Der entscheidende Punkt ist nämlich, dass Adressaten, Zuschauer und Leser glauben und akzeptieren, was in den performativen Sprechakten behauptet wird.
So wie wir glauben und akzeptieren, dass ein auf bestimmte Art bedrucktes Papier so viel Wert ist wie ein Produkt oder eine Dienstleistung. Wenn das Vertrauen fehlt oder nachlässt, funktioniert es nicht oder nicht mehr.
Ein Wertpapier kann gefälscht sein, eine Urkunde auch. Wenn Rituale und Fristen nicht eingehalten werden, gelten Kündigungen nicht. Eine Entschuldigung muss ich nicht akzeptieren. Eheschließungen bringen nicht viel, wenn sich die Beteiligten nicht daran halten. Selbst in der katholischen Kirche sind es die Eheleute, die sich gegenseitig das Sakrament der Ehe spenden, nicht die Worte des Priesters.
Sollte sich eine Hebamme irren – auch Irrtümer sind möglich -, dann wird sich das herausstellen. So stark kann also die Macht des Hebammenwortes nicht sein.
Mit der Dekonstruktion sollte man außerdem sehr vorsichtig sein. Alles kann dekonstruiert werden: z. B. Arm und Reich, Wahrheit und Lüge, Kind und Erwachsener.
Wenn der Wohlhabende nach der Umwertung von Arm und Reich ein „Mensch ohne Armutserfahrung“ ist, dann kann ich ihn herzlich bedauern, wie der gläubige Christ, der weiß, dass dieser arme Mensch nicht in den Himmel kommen wird. An der Ungleichheit brauche ich nichts mehr zu ändern.
Trump hat die Grundlage von Zivilisation und Aufklärung zu zerstören versucht. Er hat der ganzen Welt vorgemacht, wie man Wahrheit und Lüge dekonstruiert: Es gibt sie nicht, es gibt nur „alternative Fakten“.
Wenn jemand den Unterschied zwischen Kind und Erwachsenem dekonstruiert, kann er für die Entkriminalisierung der Pädophilie eintreten. So ist es tatsächlich geschehen. Derrida, Sartre und de Beauvoir haben eine entsprechende Petition unterschrieben. Auch die deutschen Grünen können ein Lied davon singen.
Wer die Dekonstruktion glaubt, als wäre sie die Wirklichkeit und nicht nur ein Denkanstoß, entfernt sich von der menschlichen Zivilisation, der Wissenschaft, der Wahrheit. Er ist uns entrückt, man könnte auch sagen ver-rückt. Aber auch das Gegensatzpaar „Arzt und Patient“ kann er leicht dekonstruieren.
1 Vgl. Douglas Adams, Per Anhalter durch die Galaxis
Literatur: Wikipedia „Dekonstruktion“ und „Jacques Derrida“
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